Schon als Kind staunte ich mit andächtiger Bewunderung, woher Blumen eigentlich wissen, wann sie blühen müssen. Wie klaglos nahmen es die Gräser hin, wenn sie von den Kühen, die ich damals hütete, abgefressen wurden und ganz selbstverständlich wieder nachwuchsen. Verblühende Blumen verschwanden und kamen im nächsten Jahr wieder zum Vorschein. Ihr Gedächtnis musste also in ihren Wurzeln stecken. Manche kamen nicht mehr wieder. Hatten sie ihr Gedächtnis verloren, ähnlich dem meiner uralten Urgroßmutter?
Unhinterfragt und unbewusst machte ich bei meinem kindlichen Nachdenken gewisse Voraussetzungen:
Pflanzen waren wie ich selbst. Sie können überlegen wie ich und sich erinnern wie ich oder zumindest in einer ähnlichen Weise; denn ich nahm sie nie als sprechende Wesen wahr.
Pflanzen haben ihren Sinn. Sie gibt es nicht von selbst und um ihrer selbst Willen. Sie dienen zu etwas. Bäume spendeten mir Schatten und waren zum Klettern da, Obstbäume zum Naschen. An Blumen hatte ich meine Freude. Pflanzen hatten einen oder mehrere Aufträge während ihrer Erscheinungszeit, nicht nur für mich, sondern auch für andere, sogar für gewisse Tiere. Sie hatten also, das stand für mich fest, einen Auftraggeber, der über ihnen und auch über mir stand. Er kannte ihre Geheimnisse ebenso wie die meinen und er wusste um den geheimen Plan, dem sie unterworfen waren.
Pflanzen kennen ihre Zeit. Sie ist gröber und ungenauer als das, was ich damals über das Ablesen einer Uhr gelernt hatte, aber es gibt sie. Pflanzen können warten, bis die Bedingungen für sie günstig sind, meistens zumindest. Ich war viel ungeduldiger als sie. Sie konnten sich aber auch irren, genau wie ich. Manchmal kamen mir vor allem Bäume dumm vor, wenn sie vor dem letzten Frost in voller Blüte standen. Vergeblich versuchte ich, sie mit meinem kindlichen Gemüt davor zu warnen. Sie hörten einfach nicht auf mich. Vielleicht wussten sie es besser als ich und brauchten einfach auf diese Weise eine Pause, damit sie im Jahr darauf umso mehr Früchte tragen konnten.
In meinem Kinderherzen gab es zwei Ebenen. Blumen waren für die Bienen da, die Bienen für den Honig, der Honig für mich. Obendrein zielten Blumen ganz geradlinig und direkt in mein Herz, in meine Gefühle. Sie waren mir Augenweide. Sie hatten etwas Tröstendes. Ihr Duft berührte mich weniger.
Noch heute, gut sechzig Jahre später, durchströmt mich eine sanfte Freude, wenn ich mit einem oder mehreren Jahren Abstand an derselben Stelle einer Blume wieder begegne, schön und berührend wie damals. Kein Morgen vergeht, ohne dass ich nicht einen flüchtigen Blick auf etwas Blühendes geworfen habe. Es beschleicht mich dann ein nachsichtiges und gelassenes Lächeln über die tiefere Wahrheit hinter meinen rührenden früheren kindlichen Ansichten. Die Biologie dahinter kann mir gestohlen bleiben. Sie birgt nicht den kostbaren Schatz, der meiner Seele gut tut.