Lesenswerte wöchentliche Impulse schreibt Jesuitenpater Thomas Gertler auf www.update-seele.de .
Hier eine Kostprobe vom 11.08.2009:
Wut
Wut ist nicht gut. Sie reißt mich fort. Ich bin nicht mehr Herr meiner Gefühle und teilweise meiner Handlungen. Ich habe einen Wutanfall. Das macht mich innerlich unfrei. Ich wäre lieber ruhig und überlegen. Souverän. Aber wenn ich wütend bin, dann bin ich gerade das nicht mehr. Ich bin unbeherrscht im eigentlichen Sinne des Wortes oder beherrscht von meiner Wut.
Ich habe Probleme mit meiner Wut. Ich will sie nicht. Da ich sie nicht will, dränge ich sie weg. Tue so, als gäbe es sie nicht. Ich lächle nach außen hin und bin cool… Und merke erst nach Stunden, dass ich schlecht gelaunt bin. Oder gar erst wenn ich schlafen will, wird mir bewusst, dass da etwas ist, was meinen Adrenalinspiegel ansteigen lässt, so dass ich nicht loslassen und schlafen kann, sondern erst noch mal richtig anfange innerlich zu diskutieren, zu streiten und zu kämpfen.
Beim Verdrängen meiner Wut sind auch noch andere Faktoren wirksam. Nämlich der Uralt-Faktor „braves Kind“ und der etwas neuere Faktor „guter Christ“. Ein gutes Kind überlässt sich – nach dem Wunsch seiner Eltern – eben nicht seiner Wut. Denn dann ist es „böse“. Ich will aber ein liebes Kind sein. Und so verdränge ich meine Wut – mit Mühe. Aber mit der Zeit lerne ich es ganz gut. Und jetzt kann ich es.
Und noch stärker sind die Argumente gegen die Wut, wenn ich ein Christ bin. Es geht dabei nicht nur um Selbstbeherrschung, sondern tiefer um das Gebot der Nächstenliebe und sogar Feindesliebe. Wenn ich wirklich gläubig wäre, sage ich mir, wenn ich ein wirklich guter Christ wäre, dann würde ich nicht wütend werden, sondern könnte in allen Wechselfällen des Lebens aus der Verbundenheit mit Gott heraus, ganz ruhig und friedlich, ganz souverän und frei reagieren. Ein guter Christ wird nicht wütend.
Und so schiebe ich die Gefühle weg. Und sie kommen oft erst wieder hoch, wenn ich abends im Bett liege und noch mal über den Tag nachdenke und merke: Ich bin noch ganz sauer und verletzt. Da ist sie wieder da die Wut. Sie ist nicht gut.
So habe ich lange gedacht und gefühlt und gehandelt. Heute sehe ich es anders. Heute sage ich: Wut ist gut. Oder besser, ich sage zu mir selbst: Lieber Thomas, heute bist du aber schön wütend. Und du bist es mit Recht, denn der andere wollte dich gar nicht verstehen. Er hat sich über dich lustig gemacht. Er hat es auch noch immer weiter getrieben. Ja, Thomas, mit Recht bist du wütend. Und sobald ich das zu mir sage, beruhigt sich meine Wut, denn ich habe sie akzeptiert. Ich habe sie angenommen und nicht mehr weggeschoben und abgelehnt. Ich habe sie angehört. Ich habe ihr Recht gegeben.
Dazu sind die Gefühle da: sie zeigen uns, was mit uns passiert. Sie sind wie Lackmuspapier. Sie zeigen die Säure an. Meine Wut zeigt mir an, wie sauer ich bin, wie sehr ich verletzt wurde. Gefühle sind unwillkürlich. Sie sind gar nicht direkt mit dem Willen steuerbar. Sie stellen sich ein. Wie das Lackmuspapier rot wird bei Säure, werde ich rot vor Wut oder vor Scham. Das ist eine unmittelbare und unwillkürliche Reaktion. Ich kann damit so umgehen, wie ich es jahrelang gemacht habe: so tun, als wäre sie nicht da und mit Lächeln überspielen. Mit viel Kraft wegdrücken. Aber dann kommt sie eben später – beim Schlafengehen wieder zum Vorschein. Oder ich werde krank.
Wenn ich meine Wut das Ihre tun und sagen lasse, wenn ich meine Gefühle versuche wahrzunehmen und ihnen ihr Recht zu geben, geht es mir besser. Sogar gesundheitlich. Denn das Wegdrücken schlägt einem auf den Magen oder sonst eine schwache Stelle… Die Moral fängt erst nach dem Wahrnehmen und Beachten der Gefühle an. Was mache ich jetzt mit der Wut, die eine große Kraft ist, mit der ich tatsächlich etwas bewegen kann? Normalerweise will mir die Wut Kraft geben, Grenzen zu ziehen. Also: Wut macht Mut. Denn ich werde wütend, wenn Grenzen überschritten und verletzt werden. Wenn jemand in meinem schönen seelischen Vorgarten herumtrampelt. Mag er/sie es auch gut gemeint haben.
Und jetzt kann ich darüber nachdenken oder auch meditieren und beten, wie ich denn nun Grenzen ziehe. Wie ich erreiche, dass der/die andere die Grenze beachtet. Wie ich das erreiche, möglichst ohne selbst den/die andere/n wieder zu verletzen und wütend zu machen. Und da muss ich oft viel Phantasie und Einfühlungsvermögen einsetzen.
Allerdings kann es auch Fälle geben, wo ich mir nicht so viele Gedanken um das Wohlbefinden des Eindringlings machen kann oder muss, sondern mehr der Selbstschutz und die Selbstverteidigung an erster Stelle stehen. Also alle Fälle, in denen es um Formen des Missbrauchs und der physischen Gewalt geht. Da muss ich meine Wut einsetzen als große Kraft, die sofort ein Stoppzeichen setzt und einen Zaun errichtet.
Wenn ich das gut mache und erfolgreich Grenzen ziehe, dann bekomme ich Frieden. Ja, dann kann es eine Vertiefung und Verbesserung meiner Beziehungen geben. Wenn ich aus Konfliktscheu und Angst vor dem anderen oder aus Angst vor meiner eigenen Wut nichts tue, können Beziehungen auf die Dauer unrettbar zerrütten.
Um meine eigene Wut anzunehmen und ihr ihr Recht zu geben, hat mir geholfen den Zorn und die Wut Jesu zu betrachten. Natürlich spricht man bei Jesus nicht von seiner Wut, aber immerhin von seinem Zorn. Seinem heiligen Zorn. Es gibt mehrere Texte, die sind erschreckend, weil sie diesen zornigen Jesus zeigen, zum Beispiel die Tempelreinigung (Mk 11; Joh 2) oder auch sehr scharfe Worte an die Pharisäer. Von ihnen grenzt sich Jesus so heftig ab, weil sie ein Gottesbild vertreten, das dem Bild Jesu entgegengesetzt ist. Und für Jesus ist Gott der Wichtigste und an erster Stelle. Er ist ein barmherziger und liebender Vater, kein kleinlicher Paragrafen-Gott, aber auch kein harmloser Opa, sondern derjenige, der kommt und nahe ist mit seiner Herrschaft. Gerade an Jesu Verletzbarkeit, an seinem Zorn erkennen wir, was ihm wesentlich und heilig ist.
(11.08.2009)