Ob ich den Weihnachtsmann spielen wolle, rief mich als junger Vater einst die Kindergärtnerin unseres Dorfes an. „Ja, aber nur, wenn ich den echten Nikolaus, den Bischof von Myra aus dem 4. Jahrhundert vorstellen darf und nicht den rot gekleideten Knollennasenheini aus der früheren Coca-Cola-Werbung.“ Ich durfte.
Ich lieh mir eine Nikolausverkleidung aus einem katholischen Kindergarten und zog los. „Ich bin der Papa von Fabian“, stellte ich mich den Kindern vor. Damit war ihnen klar, wer ich war; denn Fabian, mein ältester Sohn, besuchte eben diesen Kindergarten und war ihr Spielkamerad.
Aus meinen Karton nahm ich vor ihren staunenden Kinderaugen ein weißes, weit geschnittenes Gewand und erklärte den Kindern, dass dies eine Albe sei, eine Art Untergewand, wie es die katholischen Priester heute noch bei jeder Messe unter dem eigentlichen Messgewand tragen. „Auch der heilige Nikolaus war als Bischof ein Priester, der ranghöchste Priester seiner Stadt.“, fuhr ich fort, während ich mich mit dem Zingulum, einem einfachen Leinengürtel, umschnürte und damit die Albe auf meine Körpergröße anpasste. Darüber zog ich ein rot-goldenes, ausgedientes Messwand, eine Kasel, setzte mir die Mitra auf, eine zweizipfelige Bischofsmütze mit einem goldgestickten Kreuz darauf, als Zeichen dafür, dass auch Sankt Nikolaus nicht aus eigener Vollmacht handelte, sondern sich als Stellvertreter Jesu Christi fühlte, der sich für die Armen, die Not Leidenden, die Hungernden, die ungerecht Behandelten einsetzt. Dann nahm ich den mit Goldband umwickelten Krummstab in die Hand und schritt langsam und feierlich den Sitzkreis, den die Kinder gebildet hatten, ab, so dass jeder St. Nikolaus aus nächster Nähe mitbekam.
Ich fügte mich in diesen Kreis ein, setzte mich bedächtig auf meinen Erwachsenenstuhl und erzählte nun in Ichform, was „ich“ als Heiliger so alles in „meinem“ Leben an Wohltaten vollbracht hatte, so dass „mich“ heute noch viele kennen. Ich erzählte, wie „ich“ drei verarmten Mädchen heimlich des Nachts Geld durchs Fenster warf, damit sie nicht betteln mussten, sondern als würdige junge Frauen heiraten konnten.
Gebannt lauschten die Kinder. Weg war Fabians Papa, verschwunden aus ihrem Gesichtskreis, nur der leibhaftig gegenwärtige Heilige zählte noch.
„ ... und dann kam eine große Hungersnot über meine Stadt Myra. Niemand hatte mehr etwas zu essen, als wie durch eine Fügung Gottes ein großes, für den römischen Kaiser bestimmtes Getreideschiff an unserem Hafen anlegte. Sofort eilte ich zum Hafen und überredete den Kapitän, seine riesige Angst vor dem mächtigen Herrscher in Rom zu überwinden und uns hundert Sack Getreide da zu lassen. Könnt ihr euch vorstellen, wie sich meine Leute in Myra darüber freuten?“ Lebhaftes Nicken ringsum bestätigte mir, wie sehr die Kinder diese Freude nachempfanden.
So mancher schielte schon auf meinen mitgebrachten großen Sack mit den Geschenken. Doch so schnell rückte ich damit nicht heraus und gab noch eine weitere, weniger bekannte Nikolauslegende zum Besten. Da hatte der Statthalter Bestechungsgelder angenommen und drei unschuldige Bürger zum Tode verurteilt. „Ich eilte zum Richtplatz, riss dem Henker das Schwert aus der Hand, befreite die Gefangenen und brüllte den Statthalter an: Du wagst es, Unschuldige zu töten?“ Meine zornige Stimme füllte den Kindergartensaal und als ich wütend meinen Hirtenstab auf den Boden stampfte, duckten sich zutiefst erschrockene Kinderköpfe. Geistliche Autorität, verkörperte Gerechtigkeit im Namen Gottes als höchstem Richter und letzte Instanz bestimmte die Atmosphäre, Zeit also, versöhnlichere Töne anzustimmen: „ ... und alle, denen ich geholfen habe, dankten Gott und gaben diesen Dank auch an ihre Mitmenschen weiter. Als Zeichen dafür bekommt jetzt jeder von mir aus diesem großen Sack ein kleines Geschenk.“
Die Spannung wich aus den Kinderseelen, machte Neugier und Freude Platz, als ich zusammen mit der Kindergärtnerin jedem Kind eine Orange und eine Schokoladentafel überreichte. Es konnte ihnen gar nicht schnell genug gehen. Ob sie überhaupt bemerkt haben, dass ich so ganz nebenbei in aller Stille meine Nikolausverkleidung wieder ablegte, sorgsam im Karton verstaute und als ganz normaler Familienvater den Kindergarten verließ?
Brauchtum pflanzt in Kinderseelen wichtige Wertvorstellungen. Nicht ich als Fabians Papa zählte dabei, sondern der im Mirakelspiel gegenwärtige St. Nikolaus, der „berühmte und überall bekannte Vater und Verteidiger der ganzen Welt, ihr Mittler und Retter, Abbild Christi und nachahmenswertes Vorbild der Christen“, wie es in einem Erzählbuch über ihn heißt.
06.12.2008, dem Fest des Heiligen Nikolaus