Lieber Vater,
mit Deinem jahrelangen Dahindämmern gabst Du uns drei Kindern viel Zeit, sich auf den Abschied von Dir einzustimmen. Schon seit Jahren mussten wir mit Deinem Tod rechnen. Doch nun, wo er eingetreten ist, überrascht es mich doch, wie ich mich behutsam an meine eigene Lebensgeschichte mit Dir herantaste.
Die frühesten Kindheitserinnerungen sind geprägt von den Sorgen unserer Mutter, die Angst darum hatte, ob Du die vielen Splitter, die ein explodierender Panzer während des zweiten Weltkrieges in Deinen Knochen und in Deinem Kopf hinterließ, jemals so ausheilen würden, dass Du als Ernährer unserer jungen Familie nicht ausfällst. Wie unbegründet diese Sorge war, zeigte sich allein darin, dass Du über 92 Jahre alt wurdest, so erfolgreich kapselte Dein Körpergewebe die Splitter ein.
Als Jugendlicher erwähntest Du auf meine diesbezüglichen Fragen, dass Du innerlich immer voller Zuversicht warst, dass Du diesen Krieg, der Dir fünf Jahre Deines Lebens raubte, trotz lebensgefährlicher Scharlachkrankheit überleben wirst. Diese Zuversicht in Dir verstärkte sich, als Du Dir in der Schreibstube als französischer Kriegsgefangener selbst den Entlassungsschein ausstelltest, wodurch Du mit einem Gefangenentransport in Schwäbisch Gmünd landetest, wo Du wie durch ein Wunder Deinen Vater wieder trafst, den es aus dem Osten hierher verschlagen hatte. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes fandest Du Deine Mutter und Deine beiden Schwestern wieder. Die jüngste Schwester übersiedelte mit Deinen Eltern in diese Stadt. Alle drei wurden dort bestattet. So war es auch Dein Wunsch, neben Deiner Schwester Elli im anonymen Urnengrab aufbewahrt zu werden.
Überhaupt wurde Schwäbisch Gmünd zur Stadt Deines Neubeginns. Dort hast Du Deine spätere Ehefrau Hildegard, unsere Mutter, kennen gelernt. Meine knapp jüngere Schwester Anita und ich erlebten damit ein fast normales Familienbild, so dass uns unsere Armut mit Plumpsklo und Kaltwasserhahn in der Küche, die wir mit einer anderen jungen Familie mit zwei Kindern teilten, nie bewusst wurde. Irgendwie waren wir in diesem Gefüge geborgen. Deine Zuverlässigkeit war sprichwörtlich.
Auch beruflich war diese Stadt für Dich wegweisend. Hatte dort doch die Gablonzer Glasindustrie ihren Neuaufbau und entwickelte sich zu einem beachtlichen Arbeitgeber in der Nachkriegszeit. Wie staunte ich als Kind, dass Du dort den dunkelblauen Mercedes Deines Chefs fahren durftest, wo wir selbst doch über weitere zehn Jahre autolos lebten. Wie stolz war ich, als Du mich durch diese Firma führtest und wie ehrerbietig Dich die Glasbläser behandelten, die ich grenzenlos bewunderte, wie sie aus einem goldgelben Feuerball die wunderbarsten, hauchzarten Glaskunstwerke formten. Dumpf fühlte ich, dass sie Dich mit Deinen kaufmännischen Fähigkeiten und Deiner Zuverlässigkeit brauchten. Es sicherte ihre Arbeitsplätze.
Diese Welt änderte sich für mich schlagartig, als Du zur Kaufmännischen Krankenkassen Halle als einfacher Angestellter wechseltest, mit einem niedrigeren Gehalt, aber mit einer Aussicht auf eine gesicherte Rente. Ich erinnere mich noch heute an meine zornige Großmutter mütterlicherseits, die nie verwunden hatte, dass ihre Tochter als Stuttgarterin einen Sudetendeutschen geheiratet hatte. Für sie warst Du, lieber Vater, nur ein verachtenswerter Tscheche. Mit diesen Begriffen fing ich selbst zunächst gar nichts an, ahnte aber, dass Menschen zumindest in meiner Umgebung offensichtlich nicht alle gleich wertvoll waren und dass es so etwas wie Nationalitäten gab, was im Krieg eine wichtige Rolle gespielt haben musste. Über Krieg selbst hast Du so gut wie nie gesprochen, außer über so Banalitäten wie das Essen von Schokolade in einem im Schlamm steckengebliebenen Panzer.
Dafür ging es entgegen den Unkenrufen meiner Großmutter mit dem Kundenstamm der Krankenkasse aufwärts und mit Deinem Gehalt ebenso. Wir bezogen eine neue Wohnung in einem Wohnblock der Baugenossenschaft mit einem eigenen Bad und einer eigenen Küche mit warmem Wasser aus dem Durchlauferhitzer. Welch unvorstellbarer Luxus! Väter waren eben dazu da, dass es ihren Kindern einmal besser ging. Dass nicht alle Väter so gepolt waren, begriff ich erst später.
Danach wurdest Du Geschäftsführer der Zweigstelle Heidenheim. Unvorstellbar ist mir heute, wie Du damals aufs Härtsfeld nach Neresheim radeltest, um, wenn ich mich recht erinnere, im Nebenraum einer Gaststätte Deine Sprechstunden mit den dortigen Kunden abzuhalten. Vielleicht hast Du Dir dort jene Robustheit antrainiert, die Dich nun so alt werden ließ, wenn man von Deinen stundenlangen Fußwegen zur Schule im Nachbarort Deiner sudetendeutschen Heimat mal absieht. Später kam dann doch ein gebrauchter VW-Käfer, damals noch mit geteiltem Rückfenster, als Arbeitsgerät dazu. Unser Umzug nach Heilbronn, wo Du bis zu Deiner Verrentung Geschäftsführer warst, schien mir nur eine Folge Deiner bisherigen Tätigkeit.
Bücher, wie z.B. Thedor Krögers „Heimat am Don“ und Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ standen in unserem spärlich ausgestatteten Bücherschrank. Obwohl sie aus der Sicht meiner Eltern nicht für mich bestimmt waren, las ich sie als Jugendlicher natürlich ebenfalls. Überhaupt schimmerte, lieber Vater, immer wieder in winzigen Kleinigkeiten Dein Interesse an Russland durch. Weshalb, blieb mir immer ein Rätsel, weckte aber meine Neugierde an diesem Land, seiner Kultur, seiner Musik und seiner Geschichte.
Musikinstrumente oder Schallplatten besaßen meine Eltern lange nicht. Erst in Heilbronn kam ein Plattenspieler ins Haus. Als ich einmal als Student Beethovens Violinkonzert mitbrachte, bei dem David Oistrach, der berühmte russische Geiger, den Solopart spielte, war ich sehr erstaunt, dass er Dir, lieber Vater, schon seit Deiner eigenen Armeezeit ein Begriff war. Hatte der Russlandfeldzug für Dich eine kulturelle Komponente? Ich hakte damals nicht nach. Leider!
Dass Du in meinem Herzen einige Saiten der Sehnsucht nach dieser slawischen Mentalität aufgezogen und gespannt haben musstest, schien mir er erst recht naheliegend, als ich die CD meiner hoch musikalischen ehemaligen Schülerin anhörte, die als Kind aus Russland emigrierte und später unter Gorbatschow als Kulturbotschafterin Russlands für Deutschland unter dem Künstlernamen Lara auftrat. Diese Stücke dringen tief in mein Herz und lassen dort ungeahnte Saiten erklingen, die irgendwie mit Dir, lieber Vater, zu tun zu haben scheinen.
Als Du schon längst nicht mehr sprechen konntest außer einem verstümmelten lang gezogenen Ja und einem kopfschüttelnden Nein, fragte ich dich an Deinem Krankenbett nach einigen Deiner persönlichen Eindrücke aus den Kriegsanfängen. Da brach plötzlich aus Dir nochmals, geradezu einmalig, ein zusammenhängender Satz in langsamsten Worten hervor: „Russland ist ein wunderschönes Land!“
Wenn das Christentum recht hat mit seinem Weiterleben bei Gott und wir uns damit einmal wieder begegnen sollten, wäre ich nicht im mindesten erstaunt, erführe ich, dass Deine große Jugendliebe einem russischen Mädchen gehörte, die im Kugelhagel der deutschen Wehrmacht ein jähes Ende fand.