Von ihrem Tod erfuhr ich erst Monate später am Ostermontag 2018 beim Omelette-Essen im fernen Frankreich von einer ihrer französischen Freundinnen, die auf den Tag genau 16 Jahre jünger ist. Seitdem beschäftigt mich die Erinnerung an die wenigen Begegnungen, die ich mit der Verstorbenen hatte. Mein letzter Kontakt mit ihr war Ende Mai 2017, als ich sie in meiner damaligen Rolle als Vorsitzender des Pamiers-Komitees Crailsheim - mal wieder verspätet - im Altersheim anrief und ihr zu ihrem 97. Geburtstag gratulierte. Es war so gegen 15 Uhr und sie wusste nicht mehr, wer ich war. Sie erklärte mir, dass soeben ihre Tochter gegangen sei und sie sich erschöpft ins Bett gelegt habe. „ Mein Leben ist nicht mehr schön. Es ist Zeit zu gehen.“, drang es durch den Telefonhörer an mein Ohr. Vor meinem geistigen Augen sah ich sie liegen, blind, matt und mager.
Erblindet war sie schon, als ich zehn Jahre zuvor zum ersten Mal bei ihr zu Besuch war.
Überrascht nahm ich wahr, wie sicher sie sich durch ihre kleine, helle Wohnung in der Senioren-
anlage in Gerabronn bewegte, genau wusste, wo in ihrer kleinen Küche der Kaffee zu finden war, den sie für uns beide für mein erstes Interview mit ihr vorbereitete. Sie erinnerte sich ebenso genau, in welcher Schublade in ihrem Wohnzimmer die entsprechenden schriftlichen Unterlagen aus früherer Zeit lagen, die ich für das geplante Buch zum 40-jährigen Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Crailsheim / Deutschland und Pamiers / Frankreich einsehen durfte. Insgesamt dreimal war ich zum Interview bei ihr. Beim dritten Mal buk sie mir einen Johannisbeerkuchen, weil ich ihr verraten hatte, dass ich diesen immer als Kind zum Geburtstag bekam. Kochen und Backen schienen trotz ihrer Blindheit kein Problem. Das muss auch ihr Markenzeichen für ihre ersten Kontakte nach Frankreich gewesen sein. In den Gastfamilien, die sie in Pamiers aufnahmen, war sie willkommen mit ihren deutschen Rezepten, wofür ihr die Familien bereitwillig die Küche überließen. Schwäbische Maultaschen waren Pflicht. Die Schwarzwälder Kirschtorte wurde mit Gelatine aus der Apotheke, Crème fraîche und Süßkirschen etwas abgewandelt, weil Sauerkirschen und Sahne nicht verfügbar waren.
Versöhnen läuft halt durch den Magen und Versöhnung mit Frankreich war das Hauptanliegen der deutschen Generation nach dem Krieg. Gertrud Scharms Weg waren die der persönlichen Kontakte. So war sie in Frankreich zu einer Hochzeit eingeladen, besorgte für das junge Paar in Crailsheim die Gardinen für deren Wohnung, weil der Wirtschaftsaufschwung in Frankreich noch etwas auf sich warten ließ. Sie schmuggelte für die Hochzeitsgäste in ihrem deutschen Auto die in Andorra zollfrei eingekauften Spirituosen. Mit Erfolg spekulierte sie darauf, dass nur französische Autos kontrolliert würden.
Den fertigen Artikel für das Jubiläumsbuch las ich ihr Satz für Satz durch das Telefon vor. Satz für Satz bestätigte oder korrigierte sie mit höchster Konzentration. Diese Fähigkeit trainierte sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, indem sie Primzahlen sammelte. Das Sieb des Eratosthenes hatte sie im Kopf. Sie kam damals 2007 bis 1049.
In Gertrud Scharm bin ich einem Menschen begegnet, der mit viel Lebensenergie und menschlichem Gespür in den Nachkriegsjahren auf seinem ganz persönlichen Weg viel zur Versöhnung nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg beigetragen hat. Sie war eine wahre Power-Frau, vor der ich mich voller Bewunderung verneige.